Organisiert von Georges Felten (Université de Caen), Susanne Götze (Universität Potsdam) und Guillaume Plas (Université d’Amiens).
Am 3. und 4. Juni 2011, in dem Heinrich-Heine-Haus in Paris.
Das Programm finden Sie hier.
Während „Schock“ und „Bruch“ Gegenstand zahlreicher Theoretisierungsversuche gewesen sind, lässt sich nichts Vergleichbares über die diesen Ausdrücken doch nahestehende „Explosion“ bzw. „Sprengung“ sagen: Sie ist bislang noch nie einer systematischen Untersuchung unterworfen worden, und hat es auch nie zum Rang eines Begriffs im vollen Wortverstand gebracht. Vielmehr ist sie stets dem Ereignishaften verhaftet geblieben oder aufgrund ihrer Anschaulichkeit als bloße Metapher, als uneigentliche Rede eingesetzt worden. In dieser doppelten Hinsicht geistert sie – heute mehr denn je – durch den öffentlichen Raum: einerseits stellt die (vorgebliche oder reale) Gefahr von Terroranschlägen ein schier unerschöpfliches Reservoir für Zeitungsschlagzeilen und Politikerreden dar; andererseits bedienen sich Werbebranche und Boulevardpresse geradezu hemmungslos der Explosions-Metaphorik als Vermarktungsstrategie, die den spektakulären Charakter ihrer jeweiligen Erzeugnisse hervorheben soll. Kurzum: die Explosion ist ein Faszinosum – sie ist bedrohlich und verführerisch zugleich –, sie bewegt sich stets zwischen den Polen von reiner Gewalt und ästhetisierender Verklärung.
Diese eigentümliche Spannung dient unserem interdisziplinären deutsch-französischen Workshop als Ausgangspunkt. Von ihr aus soll der Begriff der Explosion näher gefasst werden, wobei wir uns vor allem auf die drei folgenden Problembereiche konzentrieren möchten – anderen Vorschlägen gegenüber aber durchaus aufgeschlossen sind:
1) Explosion/Sprengung und Politik
Auf den ersten Blick scheint die Explosion in politischer Hinsicht immer auf der Seite des Protests, des Unbotmäßigen zu stehen, hat sie es doch – sei es auf konkrete, symbolische oder rhetorische Art und Weise – auf die Zerstörung der vorherrschenden Normen bzw. der Machtzentren selbst abgesehen. Auf der makronarrativen Ebene der Geschichte kann sie jedoch unterschiedlichste Funktionen wahrnehmen: Werden die Sprengsätze in rein destruktiver Absicht gelegt – im 19. Jahrhundert sprach man vom „Nihilismus“ der Anarchisten –, oder um das Wiederaufleben eines vorgängigen, besseren Zustandes zu ermöglichen (man denke an die Regenerationserwartungen, die vor 1914 in Intellektuellenkreisen allenthalben mit einem Kriegsausbruch verbunden wurden), oder schließlich um Platz zu schaffen für die Errichtung von Neuem? Sogar in letzterem Fall ist es durchaus möglich, dass der Explosion eine im Dienst der etablierten Macht stehende ideologische Rolle zukommt – die Sprengung des Berliner Stadtschlosses durch die DDR-Obrigkeit zu Beginn der 1950er Jahre mag als anschauliches Beispiel genügen.
2) Explosion/Sprengung und Kunst
Parallel zur Inszenierung tatsächlicher Explosionen wird in der künstlerischen Praxis – insbesondere in der Avantgarde – versucht, Poetiken der Explosion auszuarbeiten. Das wohl bekannteste Beispiel ist Bretons Definition des poetischen Bildes als eines „Funkens“, der aus dem „Spannungsunterschied zwischen den zwei elektrischen Leitern“ des Bildspenders und -empfängers hervorgehe. Unter welche Vorzeichen wird die Explosion dabei gestellt: die eines Wunders der Technik – welches freilich in eine fatale Kettenreaktion umschlagen kann – oder die der grauenvollen Erlebnisse aus den Schützengräben und den bombardierten Städten, die gegebenenfalls durch die mediale Darstellung ästhetisch überformt werden? Wird die Sprengung vom Beobachtungs- und Äußerungssubjekt als etwas Beängstigendes erfahren, als Lustquelle, gar als Katharsis und Befreiung, oder aber wird sie scheinbar rein sachlich und nüchtern aufgezeichnet, wie bei Alexander Kluge, Chris Marker und, in einem ganz anderen Zusammenhang, bei Roman Signer? Welche Äußerungsmodi werden angesichts der Explosion als dem Diskontinuierlichen schlechthin eingenommen: Wird dem Narrativen noch der geringste Platz eingeräumt? Und wie ist es um das Deskriptive bestellt? Von welchem Zeitverständnis zeugen solche Poetiken? Für welche Rhythmisierung entscheiden sie sich: für das Aufblitzen, die Aneinanderreihung von „snapshots“ (Arno Schmidt), die nervöse Hochgeschwindigkeitsmontage, oder aber für die Zeitzündung, welche eine kontinuierlich anwachsende, auf Verdrängungsmechanismen beruhende Spannung aufbaut, um sich schließlich in einem finale furioso zu entladen (hier wäre etwa an die in Zeitlupe gefilmten Explosionen am Ende von Antonionis Zabriskie Point zu denken)? Man könnte aber auch an Explosionspoetiken denken, die den Schwerpunkt eher auf das Danach legen und den Mechanismus des Ertaubens, der Stille in den Fokus nehmen.
Zudem scheint es uns sinnvoll, danach zu fragen, ob und wie die subversiven Absichten dieser Explosionspoetiken ihrerseits von der Kulturindustrie integriert und (möglicherweise) entschärft werden? Wird dadurch das ästhetische Moment an der Explosion nicht unwiderruflich diskreditiert? Mit welchen Mitteln versucht die (Sub-)Kultur, diesen Entwicklungen Rechnung zu tragen?
3) Explosion/Sprengung in der Werbebranche und im Journalismus
Sowohl graphisch als auch rhetorisch bedient sich die Werbebranche in geradezu inflationärem Maße der Explosion als Verheißung des Neuen: Läuft dies letzten Endes nicht eher auf die Konsolidierung der bestehenden Verhältnisse hinaus, und sind diese Explosionen nicht vielmehr Allegorien des Konsums, der sich in seiner Augenblicklichkeit restlos – ohne Abfälle zu hinterlassen – aufzehrt? Analog dazu könnte man die Frage aufwerfen, ob der journalistische Diskurs über die verschiedenen „geplatzten“ Wirtschafts-„Blasen“ mit seiner banal-kindlichen Explosionsmetaphorik, die jedem weitergehenden Erklärungsbegriff schnell den Riegel vorschiebt, letzten Endes nicht einem mythischen Dispositiv – das der Naturalisierung von Geschichte – zuzuordnen ist?
Parallel zu diesen eher punktuellen Untersuchungen, die die möglichen Gestalten der Explosion – als Ereignis und als Wort – zu erfassen versuchen, scheint uns eine Auseinandersetzung mit der „Explosivität“ bzw. der „Sprengkraft“ als analytischem Begriff wünschenswert: Inwiefern ist es etwa möglich, auch Texten oder Theoriemodellen aufgrund ihrer Funktionsweise und ungeachtet ihrer genauen Thematik eine „explosive“ Qualität zuzuschreiben? Und inwiefern unterscheidet sich diese Kategorie von der „Subversion“, der „Dysfunktionalität“ innerhalb eines bestehenden Systems, oder auch noch von der „Revolution“ im Sinne Thomas Kuhns? Mit anderen Worten: Welchen möglichen analytischen Mehrwert vermag sie zu erbringen?